Vier Impulse für den barrierefreien Film
„Das Kino ist ein Fenster zur Welt.“
Ein schönes Motto, das für alle gelten sollte!
Nur daß denen, die Filme nur mit ihren Ohren oder Augen erleben können, die Sicht durch dieses Fenster immer noch viel zu oft versperrt bleibt.
Das müßte nicht sein!
Hier sind einige Vorschläge der Kinoblindgänger gGmbH, um neuen Schwung in den barrierefreien Film zu bringen.
Erstens: Zählung!
In der Film- und Kinobranche wird viel gezählt und dann analysiert, verglichen, bewertet und gerechnet. Aber die Zahl, wie viele barrierefreie Fassungen (BF) pro Jahr produziert werden, taucht nirgendwo auf.
Warum eigentlich?
In ihrer Kino-Halbjahresbilanz 2019 schlüsselt die FFA (Filmförderungsanstalt) z.B. die 303 Kinostarts in diesem Zeitraum auf in Filme aus Deutschland inkl. Koproduktionen, den EU-Ländern, den USA und aus anderen Ländern.
Die Besucherzahlen und Einspielergebnisse dieser einzelnen Gruppen zu ermitteln, ist sehr wichtig. Genauso wichtig wäre aber auch, die Zahl der barrierefreien Filmfassungen pro Gruppe zu erheben, und wie viele mit oder ohne Fördergelder produziert wurden.
Ein erster Anhaltspunkt können die auf der Seite der FFA aufgelisteten Filme sein, die von ihr und/ oder dem Deutschen Filmförderfonds (DFFF) gefördert und für die BFs erstellt wurden.
Dort sind aber nur Filme genannt, die deutsche Fördermittel erhalten haben, und auch dabei ist die Liste nicht vollständig. Internationale Filme mit BFs werden nicht erwähnt und auch eine Jahresstatistik läßt sich nicht ableiten. Ob es mit der Zeit besser wird, ist nicht ersichtlich.
Eine umfassende Bestandsaufnahme ist schon aus Gründen der Transparenz unerläßlich und die Zahlen sollten in den FFA-Kinobilanzen veröffentlicht werden!
Nur auf dieser Grundlage kann auch beurteilt werden, wie effizient die aktuellen gesetzlichen Regelungen greifen und ob nachgebessert werden muß.
Denn das Ergebnis dieser Bestandsaufnahme würde sehr erstaunen, da sind wir uns ganz sicher.
Genaueres dazu siehe „Erweiterung“.
Zweitens: Erwähnung!
Genauso wichtig wie die anonyme Zählung ist die sichtbare Erwähnung bei den einschlägigen Film- und Kinoportalen.
Wieso?
Seit 2013 müssen für FFA- und DFFF-geförderte Filme Audiodeskriptionen/ erweiterte Untertitel produziert werden. Mittlerweile gehören die sogenannten barrierefreien Fassungen also genauso selbstverständlich zum deutschen Film wie Regie, Drehbuch, Filmmusik und Kamera. Außerdem sind sie wie die aufgeführten Gewerke eigene Kunstformen!
Der Hinweis, ob es eine barrierefreie Fassung gibt und wer diese produziert hat, gehört also genauso wie die anderen Filmdaten in die Credits!
Diese Sichtbarkeit wäre zugleich ein Anreiz für die Auftraggeber, darauf zu achten, daß die ADs und SDHs von geschulten Fachleuten erstellt werden, die nach den von der FFA empfohlenen Qualitätsstandards arbeiten.
Denn schlecht gemachte barrierefreie Fassungen können den Filmgenuß gen NULL eintrüben!
Wir appellieren also an die Filmproduzenten, Förderer, Verleiher und Presseredaktionen, diese Informationen an die Film- und Kinoportale weiterzugeben und damit zu helfen, die Erwähnung der barrierefreien Fassung dort als Standard zu etablieren.
Drittens: Regelung!
Viele der vorhandenen – je zur Hälfte mit öffentlichen Mitteln und eigenem Geld produzierten – barrierefreien Filmfassungen rauschen ungehört und ungesehen an den Zielgruppen vorbei!
Woran liegt das?
Oft liegen die produzierten ADs und SDHs nur als entsprechende Spuren auf den ausgelieferten DCPs (Digital Cinema Package). Auf die jeweils benötigte Spur kann aber ausschließlich in entsprechend technisch ausgestatteten Kinosälen zugegriffen werden. Das ist bundesweit in nur knapp 25 Kinos möglich!
Seit März 2018 haben sich zu diesen keine weiteren dazugesellt, eine Liste ist zu finden unter www.hoerfilm.info.
Und schlimmstenfalls läuft ein Film in keinem dieser Häuser.
Der Weg nur über DCPs kann also kein geeigneter im Sinne des § 47 Abs. 1 des Filmförderungsgesetzes (FFG) sein, um barrierefreie Filmfassungen zugänglich zu machen!
Was müßte passieren?
Die Bereitstellung der ADs und SDHs bei einer kinounabhängigen App!
Auf einen Schlag würden flächendeckend alle erreicht, die sich die App auf ihrem Smartphone installiert haben. Das sind bei einem Anbieter inzwischen über 40 Tausend.
Die Zielgruppen laden sich die jeweils benötigte Filmfassung herunter und gehen mit dem Smartphone ins Kino. Einzige Voraussetzung: Der Film wird dort auch gespielt.
Der Weg über eine kinounabhängige App ist also ein sehr geeigneter im Sinne des § 47 FFG.
Und was muß passieren, damit dieser Weg nicht wie jetzt schon oft, sondern immer gewählt wird?
Die von der FFA lediglich als Vorschlag formulierte „Empfehlung für Standards barrierefreier Filmfassungen“ (Stand Juli 2017) müßte durch eine verbindliche Regelung ersetzt werden!
Aus einer Richtlinie sollte klar hervorgehen, daß die teuer produzierten barrierefreien Fassungen auch über eine kinounabhängige App zugänglich zu machen sind.
Wichtig wäre dort auch noch einmal der Hinweis, daß die anfallenden Kosten für die Bereitstellung bei den Produktions- und/ oder Verleih-Vorkosten budgetiert werden können.
Diese Richtlinie müßte zeitnah und unabhängig von der anstehenden Novellierung des FFG erlassen werden, denn nach Artikel 30 der UN-Behinderten-rechtskonvention ist die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am kulturellen Leben, ausdrücklich auch der Zugang zu Filmen, „in zugänglichen Formaten“ sicherzustellen.
Davon abgesehen optimiert der Weg über eine kinounabhängige App nicht nur, sondern minimiert zugleich!
Die technische Ausstattung aller rund 4.800 verbleibenden Leinwände würde nicht nur Jahre dauern, sondern auch Kosten jenseits der 25-Millionen-Marke verursachen.
Dafür könnten einige Jahrzehnte lang die BFs aller in den Kinos gezeigten Filme bei einer App bereitgestellt werden! Und das ab sofort.
Viertens: Erweiterung!
Für über die Hälfte der jährlich in den Kinos gezeigten Filme gibt es gar keine AD/ SDHs!
Warum?
Zum einen liegt das an der im Ansatz zwar sehr guten, aber viel zu eng gefaßten und einzigen Regelung der barrierefreien Filmfassung in § 47 FFG.
Diese Vorschrift erfaßt nicht einmal alle deutschen Produktionen (z.B. die ohne öffentliche Förderung produzierten) und der internationale Film bleibt ganz außen vor.
Diese ernüchternde Bilanz schreit also nach einer Erweiterung des deutschen und besonders des internationalen barrierefreien Filmangebots!
Hier verweisen wir noch einmal auf Artikel 30 der UN-BRK:
Es kann nicht im Sinne dieser Vorschrift sein, den Begriff „Filme“ allein auf „deutsche Filme“ zu beschränken.
Und wie könnte diese Erweiterung erreicht werden?
Mit einem extra und unkompliziert gestalteten Fördertopf!
Die Gelder könnten z.B. vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und/ oder von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien kommen. Beide sind auch für Integration und Inklusion im allgemeinen und der kulturellen im besonderen zuständig.
Angesiedelt werden könnte dieser Topf wie schon der barrierefreie deutsche Film bei der FFA.
So könnten unabhängige Verleiher unterstützt werden, die ihre internationalen Arthouse-Filme mit meistens unter 100 Kopien in die Kinos bringen.
Bei dieser Gelegenheit sei noch erwähnt, daß es ohne das vorbildliche Engagement von Universal und Disney, die seit Jahren all ihre Filmtitel über eine App barrierefrei zugänglich starten, beim internationalen Film ganz düster aussähe.
Und noch ein Ansatzpunkt:
Viele internationale Filme werden später vor allem bei der ARD und ARTE mit einer BF ausgestrahlt. Warum funktioniert das erst im TV und nicht bereits zum Kinostart?
Zusammenfassung
Am dringlichsten ist die Regelung!
Diese müßte genauso kurzfristig möglich sein wie die Zählung und Erwähnung!
Große Erwartungen und viel Hoffnung setzen wir in eine wenn auch längerfristige Erweiterung!
Und die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt und wir bleiben dran, damit die Kinobegeisterten, für die wir hier sprechen, viel öfter im Kino freie Sicht durch das Fenster zur Welt bekommen!
Berlin, im November 2019
Barbara Fickert